Get a life!

Missbraucht
Neustart - von 0 in ein neues Leben

Sexuell missbraucht zu werden ist ein so tiefgreifender Einschnitt in die Persönlichkeit eines Kindes, der sich auf die Entwicklung und den ganzen weiteren Lebensverlauf auswirkt.


Der Schritt mit meiner persönlichen Geschichte an die Öffentlichkeit zu gehen, war gut überlegt und wohl abgewogen. Da ich weiß, dass auf dem Gebiet des sexuellen Missbrauchs viel Unsicherheit und Unwissenheit herrscht, möchte ich damit vor allem zu mehr Klarheit und Verständnis für die Anliegen Betroffener beitragen und auf einen gravierenden Missstand hinweisen.


In meinen Augen ist es ein weiteres Verbrechen, dass Vertreter einer christlichen Institution, aus Feigheit Verantwortung übernehmen zu müssen und vor der Angst einen Ruf zu verlieren, mit einer Willkür handeln können und damit Betroffene enorm belasten.


Neustart - von 0 in ein neues Leben


Ich war Unternehmer, habe eine Familie und dachte, ich hätte eigentlich alles ganz gut im Griff. Mit Anfang 40 holte mich ein Verbrechen ein, welches in meiner Kindheit an mir begangen wurde.



Als 9-jähriges Kind wurde ich über mehrere Jahre von einem Mann sexuell missbraucht. Unsere Wege kreuzten sich in einer freikirchlichen Gemeinschaft. Bei der Straftat reden wir unter anderem von Befingern des Genitals (auch während des Schlafs), Einläufen unter dem Vorwand der gesundheitlichen Notwendigkeit bis hin zur analen Vergewaltigung. Die Folge einer Verletzung begleitet mich bis heute.

Die Taten fanden im privaten Rahmen statt. Doch bereits in der Anfangszeit des Missbrauchs wurden verantwortliche Personen dieser Gemeinschaft von einem Gemeindemitglied auf konkrete Anzeichen von Missbrauch aufmerksam gemacht.


Später heiratete der Täter und adoptierte trotz seiner Vorgeschichte zwei Kinder. Für mich stand damals der Schutz der Kinder im Vordergrund: Melde ich den Missbrauch, würden sie wieder ihr neues Zuhause verlieren. Dass ich sie damit auch in Gefahr brachte, war mir damals nicht bewusst.


Die Gedankenwelt eines Betroffenen folgt einer eigenen Logik. Für mich gab es noch weitere gravierende Gründe, die Tat nicht aufzudecken. Der andauernde Täterkontakt und die für mich ausweglose Situation brachten mich zu zwei Versuchen mein Leben zu beenden, die glücklicherweise scheiterten.


Im Jahr 2000 offenbarte ich den Missbrauch genau denen, die bereits damals involviert waren. Am Verhalten des Täters war jedoch keine Änderung erkennbar und dieser Mensch, der sich der Straftat des schweren sexuellen Missbrauchs schuldig gemacht hatte, lebte in der Gemeinschaft unbeschwert ohne erkennbare Einschränkungen weiter. Zu diesem Zeitpunkt war die Tat noch nicht verjährt. Die allgemeinen Gemeindemitglieder wurden darüber nicht informiert, damit sie ihre Kinder von dem Täter hätten fernhalten können. Auch im örtlichen Sportverein konnte er weiter als Trainer tätig sein. Die Verantwortlichen der Gemeinschaft, bis hin zur obersten Gemeindeleitung, wussten zu diesem Zeitpunkt, dass sich ein Straftäter in ihren Reihen befindet.


Welche Gründe letzten Endes ausschlaggebend für den Beginn meines Zusammenbruchs waren, kann ich nicht genau benennen. Eine Beobachtung jedoch, wie der Täter auf dem Gemeindeplatz die Kinder einer Mutter, die in einer familiären Notsituation war und kein eigenes Auto hatte, eigenhändig in den Kindersitz seines Autos setzte und sie anschnallte, war eine davon. Dass es möglich ist, dass ein pädophiler Straftäter sich hilfsbedürftigen Kindern nähert, konnte ich nicht länger akzeptieren. Das Fass zum Überlaufen brachte dann folgende Begebenheit: Der Mann, dem ich damals den Missbrauch offenbarte und der heute einer der Gemeindeleiter ist, ging mit meinem Sohn zum Täter, um Holz in seiner Garage einzustapeln. Später wird der Täter ein Video der Begebenheit auf seinem Instagram-Account veröffentlichen. 


Es war ein schleichender Prozess, in dem mir mehr und mehr die Energie schwand und mir mein Leben völlig entglitt. Unfähig einen klaren Gedanken zu denken, hörte ich im Radio eine Reportage, in dem der Weiße Ring erwähnt wurde. So nahm ich mein Telefon und wählte die Notfallnummer und wurde umgehend an die Kriminalpolizei weiterverwiesen.


Auf Anraten der Kriminalpolizei ließ ich den Fall anwaltlich überprüfen und nahm Kontakt mit der Beratungsstelle gegen sexuelle Gewalt auf. Schnell wurde klar, dass die Tat verjährt ist. Während den Gesprächen mit der Beratungsstelle wurden allerdings auch die Verwicklungen der freikirchlichen Gemeinschaft deutlich.


Dass ich mit dem Thema keine offenen Türen einrenne, war von vornherein klar. Deshalb hatten wir uns entschieden die Gemeinschaft im Rahmen eines Offenlegungsgespräches in den Räumlichkeiten des Landratsamtes unter Anwesenheit eines Sozialarbeiters, eines Anwaltes und Vertreter der Kirchengemeinde förmlich zu informieren. 

Warum erst jetzt?


Als erstes tritt immer die Frage auf „Warum erst jetzt?“. Im Gesamten ist es ein sehr komplexes System.


Zu gegebenen Zeitpunkt werde ich näher darauf eingehen.


Prof. Gerald Hüther spricht über dieses Phänomen in einem  interessanten Interview, auf welches  ich gerne verweise.

Was dann passierte, ist für mich bis heute nicht nachvollziehbar. Da das Narrativ der verantwortlichen „Geistlichen“, die bereits Jahrzehnte von dem Missbrauch in Kenntnis waren, ihrer Einschätzung nach und Grund ihres Amtes unfehlbar sind („von Gott gesetzt“), wurde der Akt der Offenlegung als „Majestätsbeleidigung“ aufgefasst. Sogleich wurde ich zum Angreifer der Gemeinschaft und als ein Werkzeug des Bösen (infrage stellen der „Heiligen“) stilisiert, der zudem nicht vergeben könne. Auch wurde den Gemeindemitgliedern deutlich nahegelegt, nicht über das Thema zu reden um so wenig Unruhe wie möglich entstehen zu lassen. Ein Aufarbeitungsprozess konnte gar nicht erst beginnen.  Selbst die eigenen Leitfäden und auch Empfehlungen, wie die der Aufarbeitungskommission, wurden ignoriert und abgelehnt.


Mich als Nestbeschmutzer loszuwerden war eigentlich ganz einfach. Damit ein Betroffener eine Therapie beginnen kann, wird von ihm ein absoluter Abbruch des Täterkontaktes verlangt. Es ist eine Kontraindikation und die Voraussetzung überhaupt eine Therapie beginnen zu können. Obwohl ihnen dies klar kommuniziert wurde, haben sie eine Vereinbarung mit dem Täter getroffen, die ihm eine abwechselnde Teilnahme an den Gemeindeveranstaltungen garantiert. Mal er, mal wir – eine 50:50-Regelung also. Dies ist für uns als Familie natürlich nicht tragbar gewesen und hatte nichts mit einer Ideologie, sondern rein mit pathologischen Gründen zu tun. Für uns, und insbesondere für unsere Kinder, bedeutete dies den abrupten Abbruch nahezu aller Freundschaften und Vertrauenspersonen.


Um meine Situation besser beschreiben zu können, mache ich dies anhand eines früheren Erlebnisses deutlich:


Vor vielen Jahren meinte ich, mit einem Freund recht untrainiert die Zugspitze hochwandern zu müssen. Nach einem mehrstündigen kontinuierlichen Aufstieg erreicht man die Wiener Neustädter Hütte. Dort pausierten wir kurz und machten uns schließlich zum Endaufstieg auf. Nach der Hütte muss man ein größeres Geröllfeld durchwandern. Und da versagte mein Körper. Die Waden  und alle möglichen Muskeln krampften und ich war unfähig selbst kleine Schritte zu gehen.


So fühlte ich mich während meiner gesamten Depression. Während ich mich mit meiner eigenen Unfähigkeit und Hilflosigkeit abkämpfte, mussten dazu noch die anderen großen Baustellen gemanagt werden. Die emotionale Belastung für die Familie, insbesondere die der Kinder, die unternehmerischen Tätigkeiten und die Aufarbeitung mit der christlichen Gemeinschaft. Dies war schlichtweg zum Scheitern verurteilt. Und so führte die Spirale immer weiter und immer tiefer nach unten.

Welche Auswirkungen auf meine Persönlichkeit der Missbrauch und die Umstände über die nun mehr als 30 Jahre hatten und warum es zu Verhaltensweisen und Überlebensstrategien führte, die nahezu selbstzerstörerisch sind, können Fachleute erklären. Für mich war es jedoch eine große Herausforderung überhaupt erstmal Emotionen und Gefühle als Mensch im mittleren Alter kennenzulernen, sie für mich zu deuten und damit umgehen zu lernen. Ich war in einem Modus, in dem ich nur noch primitive Lebensaufgaben ausführen konnte. Um dies zu verdeutlichen, kann ich es vielleicht an einem Beispiel aus einem Gespräch mit meiner Therapeutin. Ich sollte 10 machbare Aufgaben auf einen Zettel schreiben und die Aufgabe war, jeden Tag mindestens eine davon zu beginnen - und zu erledigen. Dann sagte sie: „Wenn dein Körper dann schlafen will, dann schlafe. Und wenn er laufen will, dann laufe. Aber die Aufgabe muss zuerst erledigt werden.“ Hierbei muss ich anmerken, dass es schon zu meiner Jugendzeit eine meiner Arten der Konfliktbewältigung war, zu jeder Tages- und Nachtzeit, manchmal bis ins Morgengrauen, durch Wiesen und Wälder zu tigern. An komplexe Tätigkeiten war überhaupt nicht mehr zu denken. Mich auf etwas zu konzentrieren fiel mir enorm schwer und war zeitweise überhaupt nicht möglich.


Für meine Kundschaft, die darauf angewiesen war, dass ich rund um die Uhr für sie erreichbar bin und ich für sie oft innerhalb kurzer Zeit in komplexen Aufgabenstellungen Lösungen finden musste, war dieser Zustand verständlicherweise nicht tragbar. Mit meinem Abtauchen war es die logische Konsequenz, dass sie sich andere Geschäftspartner suchen mussten. Den Unmut, den ich dadurch hervorgerufen habe, kann ich niemanden verdenken und ist nur allzu verständlich.


Das Gemeine an der Sache war, dass, während meine Welt stillstand, sich alle anderen Mühlen kontinuierlich weiterdrehten. Der finanzielle Schaden war immens. Nicht nur, dass ich wegen der Verjährung für alle Kosten meines Rechtsbeistandes und für die Maßnahmen für meine Genesung selbst aufkomme, hatte ich durch die Zeit einen kompletten Verdienstausfall. Schließlich führte dies zur Aufgabe meiner zwei gut laufenden Firmen. Noch immer machen mir meine körperlichen Einschränkungen zu schaffen. Auch möchte ich mich schlichtweg nicht weiter für die Schuld anderer rechtfertigen und entschuldigen müssen, die mich drei Jahre aus dem Leben gerissen hat.

Mittlerweile haben wir unser Geröllfeld überwunden und kämpfen uns langsam, aber stetig, wieder zurück ins Leben. Meine Energie und Kreativität kehren zurück und wir blicken mit Zuversicht in die Zukunft. Denn was sich bereits entwickelt hat, ist nahezu unbeschreiblich. Natürlich gibt es Rückschläge und der Berg an Herausforderungen scheint nicht weniger zu werden. Dennoch möchte ich rückblickend sagen, dass es sich gelohnt hat den Kompass neu zu kalibrieren und selbstbestimmt und aufgeräumt in ein neues Leben zu starten. Aus diesem Grund möchte ich jeden dazu ermuntern, der in einer ähnlichen Situation steckt, auch wenn es eine große Herausforderung bedeutet, die Sache anzupacken und mit seinem Leben aufzuräumen.


Darum sage ich mit breiter Brust: „Come on – get a life!“


Oliver Weber


Lasst uns leben


Come on - get a life!


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